Die Zahlen stehen da, schwarz auf weiß: 20%. Die AfD. Der Verfassungsschutz hatte sie gesichert rechtsextrem genannt – doch die öffentliche Bezeichnung ist vorerst ausgesetzt. Die Bundesregierung warnt. Viele Medien, sowieso. Und trotzdem: Stabile Umfragewerte. Eine Partei, die man für politisch tot halten müsste, wirkt lebendiger denn je. Was läuft da eigentlich schief – im System, in der Wahrnehmung, in uns selbst? Oder vielleicht sogar „richtig“ – aus der Perspektive derjenigen, die das Fundament erschüttern wollen?
Fünf Klartext-Beobachtungen, die uns nicht zur Hetze, sondern zum gnadenlosen Verstehen zwingen müssen:
1. Der große Mittelfinger aus der Wahlkabine: Es ist Protest – kein Programm-Bekenntnis.
Vergiss die Parteilogos, vergiss die Sonntagsreden. Wenn forsa meldet, dass neun von zehn AfD-Wählern nicht aus Überzeugung, sondern aus Frust wählen, dann ist das kein trivialer Befund. Das ist der politische Mittelfinger einer schweigenden (oder vielmehr: schweigend wählenden) Mehrheit. Ein massiver Ausdruck von Wut, Enttäuschung und Ohnmacht. Gegen „die da oben“. Gegen den „ganzen Laden“. Es ist ein Seismograph für ein System, das offenbar nicht mehr auf die Bevölkerung hört, sondern über sie hinwegregiert – oder zumindest diesen Eindruck erweckt. Wer hier nur von „brauner Soße“ spricht, verkennt die explosive Mischung, die sich da zusammenbraut. Es ist ein Schrei. Und wir haben nicht genau genug hingehört, was er wirklich bedeutet.
2. Die ungeschickte Regierung – Das perfekte Eigentor im eigenen Sechzehner.
Man muss kein AfD-Sympathisant sein, um die toxische Wirkung vieler politischer Entscheidungen der letzten Zeit zu erkennen. Das Heizungsgesetz, das Bürgergeld, die Migrationspolitik: Viele Beschlüsse der Bundesregierung wirken nicht nur fern der Realität der Bürger, sondern oft auch wie direkte Einladungen an die Opposition – insbesondere an die, die das System grundsätzlich infrage stellen. Wenn das Gefühl von Kontrollverlust, von Gängelung, von finanzieller Unsicherheit wächst, dann ist der Nährboden für einfache Antworten, für radikale Lösungen perfekt bereitet. Die Regierung hat mit ihrem Stil, ihrer Kommunikation und ihrem Tempo unfreiwillig einen Turbo für den Frust-Wähler gezündet. Das ist nicht nur Pech. Das ist ein politisches Eigentor, dessen Wucht wir noch nicht vollständig ermessen können.
3. Die digitale Revolution – Und warum die Alten die Jungen nicht verstehen.
TikTok & YouTube statt Tagesschau. Eine Generation, die mit Algorithmen und direkter Kommunikation aufgewachsen ist, tickt anders. Viele unter 30 sagen ganz offen: „Ihr redet über uns, aber nicht mit uns.“ Das traditionelle Medienmonopol ist gebrochen. Parteistrukturen wirken verstaubt, Debatten inszeniert, Politiker hölzern und abgehoben. Wer in diesem Vakuum glaubwürdige, wenn auch populistische Antworten liefert, füllt eine Lücke. Die AfD hat das erkannt und bespielt die digitalen Kanäle oft direkter, unverblümter und „echter“ – selbst wenn die Inhalte manipulativ sind. Das ist keine Entschuldigung für ihre Inhalte, aber eine brutale Erkenntnis für all jene, die noch immer glauben, mit Zeitungsartikeln und linearem Fernsehen die jüngere Generation zu erreichen. Sie sind schon längst woanders.
4. Der Vertrauensverlust – Die Demokratie im Sog der Relativierung.
„Die AfD sagt, was ist“ – diesen Satz hört man immer häufiger. Aber: Nur weil etwas anders klingt als das, was „Mainstream-Medien“ und „etablierte Parteien“ sagen, ist es nicht automatisch die Wahrheit. Oder gar ehrlich. Doch die Erosion des Vertrauens in ebenjene Medien und Parteien ist so tief, dass selbst offenkundige Lügen und Hetze als „Klartext“ oder „Mut“ missverstanden werden. Die Warnungen des Verfassungsschutzes? Abgetan als „politisch gesteuert“. Die kritische Berichterstattung? Als „Lügenpresse“ diffamiert. Diese Relativierung von Fakten und Institutionen ist nicht nur ein Problem der AfD. Sie ist ein Symptom einer Demokratie, in der die Grundpfeiler des Konsenses und der gemeinsamen Realität erodieren. Wir haben zugelassen, dass Vertrauen zu einer Währung wird, die von Populisten gnadenlos abgewertet wird.
5. Der Verfassungsschutz im Rechtsstreit – Eine fatale Fehlkalkulation im Warnsystem.
Die Warnung des Verfassungsschutzes sollte abschrecken. Sie sollte ein klares Signal sein. Doch die Realität? Sie schreckt kaum jemanden ab. Im Gegenteil, für viele im Protest-Milieu wirkt sie wie ein Ritterschlag, eine Bestätigung, dass die AfD „die da oben“ wirklich nervt. Und jetzt kommt der Clou: Der Verfassungsschutz hatte die gesamte AfD am 2. Mai als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft – doch nur wenige Tage später musste diese öffentliche Bezeichnung auf Druck der AfD und wegen eines Eilantrags gerichtlich vorerst ausgesetzt werden.
Das bedeutet: Die Warnung kommt nicht nur nicht an. Sie wird aktiv von der Gegenseite genutzt und juristisch so unterwandert, dass der Verfassungsschutz seine eigene, brandgefährliche Einschätzung nicht einmal mehr öffentlich kommunizieren darf. Wenn der Verfassungsschutz als „politisch gesteuert“ wahrgenommen wird, wenn die Warnung vor Extremismus zum Stigma avanciert, das man stolz trägt, und wenn der Staat seine eigenen Warnungen nicht konsequent durchsetzen kann, dann hat das System ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Die Warnung verpufft nicht nur – sie wirkt als Brandbeschleuniger, indem sie das Narrativ der „Verfolgung“ und der „Systemgegnerschaft“ der AfD bedient. Wir müssen uns fragen: Ist dieses Instrument noch effektiv? Oder stärkt es am Ende genau das, was es bekämpfen soll? Eine unbequeme Frage, die gestellt werden muss.
Klartext. Schluss mit der Selbsttäuschung.Klartext. Schluss mit der Selbsttäuschung.
Die AfD bei 20% ist kein Zufall. Keine Laune der Wähler. Es ist ein Symptom einer tiefen Krise. Ein Spiegel, der uns unser eigenes Versagen vorhält:
- Was sagt das über unser politisches Klima? Über die Spaltung, den Frust, die Ohnmacht vieler Bürger?
- Was sagt es über Regierung und Opposition? Über ihre Fähigkeit, Vertrauen zurückzugewinnen, zuzuhören und die Realitäten der Menschen zu verstehen – anstatt sie zu belehren oder zu ignorieren?
- Was sagt es über uns selbst? Über unsere Bereitschaft, unbequeme Wahrheiten zu akzeptieren und uns der Komplexität zu stellen, anstatt nach einfachen Schuldzuweisungen zu suchen?
Es geht nicht darum, die AfD zu legitimieren. Es geht darum, sie zu verstehen, um die Gründe ihres Erfolgs zu ergründen – und die Schwachstellen unseres eigenen demokratischen Systems schonungslos offenzulegen. Gerade dann, wenn selbst staatliche Warninstrumente juristisch ausgehebelt werden können und die Botschaft nicht mehr ankommt. Denn nur wer die Wunden erkennt, kann beginnen, sie zu heilen. Und die Zeit drängt.




Schreibe einen Kommentar